
Ein Tag besteht aus 24 Stunden, die jeder Einzelne anders erlebt. Gestern verbrachte ich diese 24 Stunden eigentlich ganz normal – aber voll von so vielen Gedanken, dass ich dachte, ich lasse euch daran teilhaben. Am Mittwoch, dem 18. November 2015 habe ich…
…gefühlt: Wie auch in den letzten Tagen verfolgten mich düstere Gedanken über die Anschläge in Paris und der ganzen Welt. Hier in Lyon gibt es seit Freitag ein erhöhtes Security-Aufgebot in den U-bahnen, in der Uni, in Geschäften. Bevor man in den Supermarkt geht, werden die Handtaschen kontrolliert. Man sieht immer wieder Polizisten, oft auch mit Maschinengewehren. Die letzten Tage sind Museen, Theater und andere große Gebäude geschlossen gewesen, ein Versammlungsverbot wurde verhängt. Große Feste und Veranstaltungen wurden abgesagt, jetzt sogar das „Fête de Lumière“, für das insgesamt 4 Millionen Besucher erwartet wurden. Am Montag, während der Schweigeminute, stehen weinende Mitstudenten neben mir. Wir alle haben Angst.
…gedacht: Andererseits bin ich mir durch den ganzen Horror der letzten Tage meines eigenen Glückes weit mehr bewusst als sonst. Ich und alle, die mir nahe stehen, leben und sind gesund. Ich kann jeden Tag Momente erleben, die mir auch in diesen unruhigen Zeiten niemand wegnehmen kann. Gerade in den letzten Tagen, in denen ich vermutlich etwa zu sehr meinen trübsinnigen Gedanken nachgehangen habe, war diese Erkenntnis etwas, das mir Mut gemacht hat.
…gefreut: Um halb sieben aufgestanden. Um zehn nach acht festgestellt, dass der Professor nicht kommt. Natürlich habe ich mich erst ein wenig über das unnötige frühe Aufstehen geärgert – alle Schüler und Studenten kennen den entsetzten Ausruf „Ich hätte schlafen können!“ vermutlich nur zu gut. Doch dann habe ich mich wirklich gefreut, den kompletten Tag noch vor mir zu haben. Die Sonne scheint, und das um neun Uhr morgens. Glück.
…erledigt: Da wir gestern hier in meiner kleinen französischen WG einen neuen Ofen und eine neue Spülmaschine bekommen haben, erstmal einen Küchengroßputz. Dann ein Obst-Einkauf auf dem Wochenmarkt in der Sonne und Besorgungen in einem Schreibwarenladen. Ein bisschen Sport, ein paar Uni-Sachen. Während dem Anhören zahlreicher Sprachnachrichten meiner liebsten Freundinnen (ich liebe es!), habe ich mit dem Basteln von Weihnachtskarten begonnen. Außerdem habe ich Karten fürs Theater für nächste Woche besorgt (Shakespeare – „King Lear“) und wurde für morgen Abend auf ein Sinfonie-Orchester-Konzert eingeladen. Die schönste „Erledigung“ des Tages war aber in der sonnenbeschienen Küche zu sitzen, Tee zu trinken und „Les Misérables“ zu lesen – eine Lektüre für die Uni, die mich mittlerweile aber komplett gepackt hat. Auch wenn es nur lauter Kleinigkeiten sind, habe ich mich lange nicht mehr so energiegeladen und motiviert gefühlt, und das war ein schönes Gefühl.
…entdeckt: Das Café „L’instant“ in Lyon, das gleichzeitig eine Chocolaterie ist. Ich und meine Freundin waren verzückt! Die Produkte werden alle vor deiner Nase hergestellt, da die „Schokowerkstatt“, wie ich sie liebevoll nenne, nur durch eine dünne Glaswand vom Café getrennt ist. Neben den ganzen Köstlichkeiten, der liebevollen Einrichtung und einer hinreißend netten Inhaberin waren auch zufällig sehr viele Schwangere und Mamis mit ihren Kleinkindern da und die Atmosphäre war einfach nur zuckersüß. Die bereits erwähnte Inhaberin ist sogar immer wieder mit einem Kuchentablett von Tisch zu Tisch gekommen, hat gratis Süßes verteilt – und uns sogar noch einen Keks für den Heimweg mitgegeben. That’s love! Meine Freundin und ich haben, jeder für sich, ein paar Uni-Dinge erledigt und dann habe ich…
…geschrieben: Seit ungefähr 2 Wochen schreibe ich wieder an meinen alten Kurzgeschichten weiter, manchmal jeden Tag. Heute erst in der lichtdurchfluteten Küche, dann im Café. In den letzten Monaten habe ich vorrangig für den Blog geschrieben, aber jetzt versuche ich, wieder mehr für mich zu Papier zu bringen – in meinem Tagebuch oder in meinen Geschichten, und es tut so wahnsinnig gut und bringt mich jedesmal runter, in einem positiven Sinn.
…gegessen: In dem wunderbaren Café eine heiße Schokolade mit Mandelaroma und eine Zitronentarte. Außerdem Joghurt mit Haferflocken und Obst und als 2. Frühstück knuspriges Körner-Toastbrot mit Margarine, Salz und Guacamole zum Dippen. Abends mussten meine Freundin und ich unbedingt den neuen Ofen einweihen, da wir ja seit immerhin fast drei Monaten keine Ofengerichte mehr kochen konnten (ich weiß, absolutes Luxusproblem. Ich will mich auch gar nicht beschweren). Aber jetzt ist er da und am Sonntag werden schon die ersten Plätzchen gebacken, juhu! Wir haben uns für eine Quiche mit Blattspinat, hellen Rosinen und Ziegenkäse entschieden, dazu Tomatensalat. Sehr lecker!
Am 18. November 2015 war ich dankbar für: Freundschaften. Die kleinen Momente. Den Geruch, den Orangenschale auf der Haut hinterlässt. Die Gesundheit aller, die mir nahe stehen. Bitterschokolade in jeglicher Form. Den Mut, das Leben weiter zu genießen, wenn auch im Moment mit einem bitteren Nachgeschmack. Und nicht zuletzt: den Ofen!
Erlebt ihr es auch manchmal, dass ein ganz normaler Tag zu etwas Besonderem wird, ohne dass ihr es erklären könnt? Für was wart ihr gestern dankbar?